Ein kurzer Auszug aus dem Roman

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Als sei es selbstverständlich übernahm der Tankwart ungefragt die Leitung des Gesprächs. Und auch noch gleich die Funktion des Protokollführers. Das  waren die meisten der Anwesenden allerdings schon gewohnt, denn niemand widersprach oder fragte zumindest einmal nach, mit welcher Berechtigung der Tankwart sich diese Aufgaben zuschanzte. Zunächst belehrte er uns aus der Satzung über die Organe unserer  Genossenschaft, näherte sich dann behutsam über die Sitzungen des Vorstandes und die Sitzungen des Aufsichtsrates  und anschließend über die gemeinsamen Sitzungen von beiden unseren  Mitgliederversammlungen an und dann endlich einer außerordentlichen Mitgliederversammlung, auf die er aber noch nicht einging. Stattdessen begann er Urteile über die rechtliche Anerkennung von Beschlüssen außerordentlicher Mitgliederversammlungen zu zitieren.

Und plötzlich versagte ihm die Stimme, brach ganz unvermutet weg. Wie bei Sole. Der Unterschied bestand nur darin, dass der Tankwart es nicht zu bemerken schien, denn er sprach weiter, obwohl nichts mehr zu hören war. Ich wollte ihn unterbrechen: „Tdankwartd, wir verstehen nichts mehr.“ Doch der Tankwart ließ das nicht zu. So sehr war er in seinen Gedanken über die Rechtmäßigkeit von außerordentlichen Mitgliederversammlungen verfangen. Ich überlegte mir, wie ich auf das Problem aufmerksam machen könnte. Rufen, aufstehen und zuwinken? Oder singen? Ich stieg behände auf meinen Stuhl, sah meine Mitbewohner an, doch man ignorierte mich. Deshalb stieg ich noch höher auf den Tisch, trampelte mit den Füßen, trat auf die Aktenordner des Tankwarts, trat auf die Satzung unserer Genossenschaft. Auch das beeindruckte niemanden. Deswegen begann ich, erst leise, dann schallend laut die Marseillaise[1] zu singen.  Nichts Geringeres. Auf Deutsch. “ Auf, Kinder des Vaterlands. Der Tag des Ruhmes ist gekommen! Gegen uns Tyrannei. Das blutige Banner ist erhoben.“ Das hätte eigentlich reichen müssen. Doch nichts. Keine Reaktion. Niemand beachtete mich. Nicht einmal Ida sah zu mir hoch. Alle verfolgten die sinnlosen Ausführungen des Tankwarts mit mehr oder weniger großem Interesse. Niemand schien zu bemerken, dass er stimmlos sprach. Enttäuscht  und etwas ungeschickt kletterte ich vom Tisch herab und setze mich wie zuvor. Plötzlich war das Wort „Zweidrittelmehrheit“ zu vernehmen.

„Wie, Zweidrittelmehrheit?“, fragte ich dazwischen, und meine Mitbewohner warfen mir einige böse Blicke zu. Jetzt erst beachteten sie mich. Aber wieso?

„Also, wir brauchen in echt eine Zweidrittelmehrheit, Kai, wenn wir hier etwas beschließen wollen, was Bestand haben soll. Korrekt? Also, wir haben sechsunddreißig Wohnungen. Also,  wären vierundzwanzig Wohnungen zweidrittel. Korrekt? Also, müssten mindestens vierundzwanzig ….“

„Hab’s verstanden“, unterbrach ich etwas barsch. Ida schüttelte genervt  den Kopf, und ich fürchtete, dass sich das auf mich beziehen könnte.

     
    

[1] Französischer Text und Melodie von Claude Joseph Rouget de Lisle (1792). 





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